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Fortschritt, wo hin?

Am 9. Juni ist Europawahl. Ich geh wählen, kommst Du mit?

„Der Fortschritt ereignet sich dort, wo er endet.“

Adorno, Theodor W.: „Fortschritt“ (1962)
In: ders.: Stichworte. Kritische Modelle 2
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1969

Das klingt nach einem Satz, der überdacht werden muss.

Aber zunächst einmal was ist Fortschritt? Oder wie definieren wir Fortschritt für uns, in unserer Gesellschaft?

Fortschritt wird in unserer Zeit und in weiten Teilen der Gesellschaft mit Technik und Wirtschaft in Verbindung gebracht. Genauer gesagt technischen Neuerungen, die unser Alltagsleben vereinfachen, oder die abgefahren, absurd und manchmal auch völlig unnötig sind.

Wirtschaftlicher Fortschritt bedeutet Wirtschaftswachstum. Mehr Geld was z.B. mit neuen technischen Must-haves erwirtschaftet wird, bzw. von uns dafür ausgegeben wird.
Fortschritt ein Versprechen der Moderne auf immer mehr, immer toller immer besser und auch immer mehr Wohlstand. Diese Form von Fortschritt wird aber zunehmend hinterfragt, weil diese Form des Fortschritts eine Menge Ressourcen verbraucht.

Das dieser Fortschritt also ausgedient hat und es mehr Fortschritt in Sachen emissionsarmes Leben, Wirtschaften, produzieren und mehr Fortschritt in Sachen wie definieren wir Wirtschaften und Wohlstand und auch gesellschaftlichen Fortschritt braucht ist die eine Sache.

Was mich beschäftigt ist die Absurdität, mit der der Fortschrittsbegriff belegt ist. Denn auf der einen Seite wird ein, wie eingangs beschrieben, liberaler Fortschrittsgedanke im Sinne des Wirtschaftswachstums etc. propagiert, auf der anderen Seite halten diese Fortschrittsdenkerinnen an absurden Technologien wie einem Verbrennungsmotor fest.

Und, und dass ist das Absurdeste, diese Fortschrittsdenkerinnen wehren sich zum Teil ebenso gegen gesellschaftlichen Fortschritt und üben sich darin einen Kulturkampf heraufzubeschwören. Sprachlicher Fortschritt wie gendern wird abgelehnt. Und wir erleben in Teilen eine Sehnsucht nach backlash (Rückschritt) statt Offenheit. Also das Gegenteil von Fortschritt.

Skizze Mensch vor einem Abgrund
Skizze Mensch vor einem Abgrund

Wenn Du vor dem Abgrund stehst, dann ist der Rückschritt ein Fortschritt.

Friedensreich Hundertwasser

Sie Sehnsucht danach, dass unser Staubsauger immer mehr kann, aber wir uns bitte nicht bewegen müssen. Gedankliche Ungelenkigkeit, die einem Wunsch nach Gestern oder Vorgestern produziert und Ausgrenzung von allem, was vermeintlich fremd sein könnte mit sich zieht. Das verharren auf der gedanklich bequemen Wohnzimmercouch im Stil des Gelsenkirchener Barock, nicht mehr in Mode, aber immer noch gut. Ist ja nix dran, vielleicht etwas eingestaubt.

Diesen gedanklichen Spagat zwischen Staubsauger von übermorgen und Gesellschaft von gestern bekomme ich dagegen nicht hin.

Meine Kritik liegt hier nicht im technischen Fortschritt an sich, sondern dass es häufig Fortschritt zum Selbstzweck zu sein scheint, bzw. die Konsum- und Nachfragezwecke im Vordergrund stehen. Sprich Wirtschaftswachstum. Sollte Fortschritt nicht aber einen übergeordneten, “höheren” Zweck haben?

Technischer Fortschritt mit dem Ziel Emissionen zu reduzieren, Geräte länger haltbar zu machen und für viele Menschen bzw. der Allgemeinheit zugänglich zu machen (durch Tausch, durch öffentliche Infrastruktur etc.) und dabei Ressourcen schonend produziert. Das wären technische Neuerungen, die der Krisen unserer Zeit entsprechen.

Aber wir müssen auch gesellschaftlichen Fortschritt im Blick haben. Und ein echtes Interesse daran. Wir leben mit Menschen zusammen, wir lieben Menschen, wir diskutieren und streiten mit Menschen, wir sind im Austausch und auch das bedeutet gesellschaftlicher und individueller Fortschritt.

Wer sich dem verweigert, möchten diese Personen lieber den Staubsauger umarmen und mit ihm ein Gespräch führen? Immerhin, eine Diskussion mit dem Staubsauger über Klimagerechtigkeit, Migration, Sprache etc. sind leicht gewonnen, aber es sind eben auch keinen Diskussionen.

Es ist kein Austausch. Ein individueller, wie gesellschaftlicher Fortschritt ist es, wenn wir die bequeme gedankliche Wohnzimmercouch auch mal bereit sind abzusaugen, vom Staub zu befreien und Gäst*innen einladen Platz zu nehmen.

Am Sonntag ist Europawahl. Es sind also noch ein paar Tage Zeit unser Denken vom Staub zu befreien und auch die verschiedenen Wahlprogramme auf ihre Verstaubtheit hin zu überprüfen. Und dann am Sonntag auch von der reellen Wohnzimmercouch runter und einen kurzen Spaziergang zum Wahllokal und eine Stimme für die Demokratie abgeben.

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