Gaia & Anthropos


Eindrücke einer Beziehung

Es ist nicht genug.
Ich bin ihm nicht genug.
Ich genüge ihm nicht.

Warum? Sieht er denn nicht, was ich ihm alles gebe? Ich gebe ihm Alles. Alles was ich
geben kann. Ich will ihn doch glücklich machen. Ich will für ihn da sein. Ich will ihm genug
sein. Sieht er denn nicht, mit wie viel Liebe ich mich ihm hingebe? Aber es reicht nicht. Ich
genüge ihm nicht. Er will mehr. Er will immer mehr. Aber was kann ich ihm denn noch
geben. Ich bin ihm doch mit Leib und Seele ergeben. Er nimmt sich was er braucht. Und er
nimmt sich viel mehr. Er nimmt sich was er begehrt und er begehrt so viel. Es genügt nie. Er
will immer mehr. Er zehrt mich aus, mit seinen stetigen Übergriffen. Er verzehrt mich.
Ich liege ihm ergeben zu Füßen. Er greift nach mir, reißt Wunden in mich hinein. Tiefe,
immer tiefere Wunden. Warum? Warum genügt ihm nicht, was ich ihm biete? Warum genüge
ich ihm nicht? Er will noch mehr. Die Wunden mehren sich.

Seit wann genüge ich ihm nicht mehr? Wir waren doch glücklich? Wir waren für
einander da? Ich habe für ihn gesorgt. Ich sorge immer noch für ihn. Ich gebe ihm
Lebensgrundlage, Wasser, Luft, fruchtbaren Boden, Nahrung.
Nimm dir, sagte ich. Es ist genug da, nimm ruhig. Doch mit dieser unstillbaren Gier
habe ich nicht gerechnet. Ja, er nimmt sich und ich gebe. Ich gebe immer mehr, mehr als ich
geben kann. Er nimmt sich immer mehr. Immer mehr von ihm will immer mehr von mir.
Immer mehr von ihm nimmt sich immer mehr von mir, nimmt immer mehr Besitz von mir.

Aber er brauchen mich doch! Er ist nichts, ohne mich. Er könnte nicht sein, ohne mich.
Hat er das vergessen? Wie konnten er das vergessen?

All seine Übergriffe, ich lasse sie über mich ergehen. Ich nehme sie hin. Wie könnte ich
mich auch zur Wehr setzten? Wie könnte ich mich zur Wehr setzten, ohne ihn zu verstoßen?
Er braucht mich doch. Seine Gier, seine Übergriffe geschehen doch nicht aus Bosheit. Er ist
doch nicht böse. Seine Gier ist doch nur Ausdruck seiner Leidenschaft. Seine Übergriffe sind
nur ein Versehen. Er handeln aus Unwissenheit und Übermut.
Es tut mir leid, wie soll er auch wissen, dass er zu gierig ist. Es tut mir leid, dass ich ihm
nicht genüge. Es tut mir leid, dass ich es nicht schaffe ihn zu befriedigen. Ich versuche seine
Gier zu stillen.

Wenn ich seine Gier nur stille, dann hört er auf. Wenn er nur einmal satt ist, dann wird
er nicht ewig mehr wollen. Dann wird er sich entschuldigen. Dann werden wir uns wieder
neu begegnen können. Dann werden wir wieder im Miteinander leben können. Dann werde
ich ihm erklären was er mir angetan hat. Dann wird er verstehen. Dann wird er sich
entschuldigen. Dann werde ich ihm verzeihen.

Denn er wird lernen. Er wird lernen mich zu respektieren. Er wird lernen meine
Grenzen zu respektieren. Er wird sich ändern, wenn ich ihm nur genug gebe. Ich muss ihm
mehr geben. Ihm so meinen Liebe zeigen, indem ich ihm alles gebe. Schließlich liebt er mich
doch. Mich, die ich ihm all dies gebe. All dies zur Verfügung stelle. Ich, die ihm sein Leben
überhaupt erst ermöglicht. Er liebt mich und wir werden einander verzeihen. Er liebt mich,
nur deswegen will er doch immer mehr von mir.

Liebt er mich denn wirklich?
Er muss mich doch lieben?!

Er wird mir seine Liebe zeigen, irgendwann. Er wird sich entschuldigen, irgendwann.
Er wird sich ändern, irgendwann. Aber wann wird das sein? Wie viele Übergriffe werde ich
bis dahin noch erdulden müssen? Wie lange kann ich das noch aushalten? Wann ist dieses
„irgendwann”? Wie lange muss ich noch warten? Wie lange muss ich noch ertragen, was er
mir antut?

Ach Anthropos, tu mir das nicht länger an. Ich kann es nicht länger ertragen.


Die Wunden, die er mir zugefügt hat, die er mit täglich zufügt, sie werden heilen. Er
wird sie heilen. Die Wunden werden verheilen und vielleicht bleibt eine Narbe übrig. Eine
Narbe, die uns erinnert, gleich eines Mahnmals vor Augen führt, wie schlecht es um unsere
Beziehung stand. Aber es wird gut sein. Irgendwann wird alles gut sein. Wir werden wieder
für einander da sein. Wir werden wieder glücklich miteinander sein. Wir werden wieder des
anderen Partner sein. Weil er sich seiner Liebe gewahr wird. Weil er sich ändern wird.
Weiter greift er, gierig nach mir und gräbt seine Hände tief in meinen Körper. Er reißt
tiefe Wunden. Mehr und mehr Wunden. So viele Wunden. Diese Wunden, sie schmerzen, sie
eitern und brennen. Ich brenne. Ein Fieber überkommt meinen Körper. Ein stetig steigendes
Fieber. Er muss es doch auch spüren, dieses Fieber. Wieso hilft er mir nicht? Er muss mir doch
helfen! Aber immer noch greift er nach mir und allem, was ich ihm geben kann. Auch jetzt
noch giert er nach meinem geschundenen Körper. Auch jetzt noch!

Aber woher soll er denn wissen, von meinen Wunden, von meinen Schmerzen, von
meinem, Fieber? Woher soll er von meinen Schmerzen wissen, die er mir täglich zufügt? Er
ist unwissend. Er ist blind für meine Schmerzen. Er ist taub für meine stummen Schreie. Er
kann nichts dafür. Ich muss es ihm zeigen. Ich muss ihm meine Schmerzen, meine
Verletzungen, meine Wunden zeigen. Er muss wissen, dass meine Schmerzgrenze erreicht ist.
Er muss spüren, dass das Maß des Ertragbaren längst überschritten ist. Aber er muss sie doch
sehen, meine Wunden, meine brennenden Wunden! Er muss es doch spüren, mein Fieber!
Bitte gib meinen Wunden doch Zeit zur Heilung. Reiß nicht neue Wunden in meinen
geschundenen, brennenden Leib.

Endlich, ein kühlendes Tuch auf meinem tobenden Körper. Für einen kurzen Moment
eine kurze Erleichterung. Ein paar der kleinen Wunden werden versorgt.
Er kümmert sich. Er sorgt sich. Er liebt mich. Er wird sich ändern. Er wird mich
pflegen, bis ich wieder genesen bin. Und ich, ich werde ihm verzeihen.
Ich wusste es doch, er liebt mich. Er ist nur unwissend. Aber jetzt, jetzt hat er
verstanden. Jetzt sieht er meine Wunden, meine Verletzungen, die er mir zugefügt hat, all die
Jahre. Jetzt hört er meine stummen Schreie. Jetzt pflegt er mich, jetzt kann ich heilen. Jetzt
wird auch unsere Beziehung heilen.


Ach Anthropos, endlich bist du für mich da. Endlich zeigst du mir deine Liebe. Ich
wusste es doch immer, du liebst mich. Nun sorgst du dich um mich. Nun pflegst du mich.
Endlich!

Aber warum nimmst du dich nur der kleinen Wunden an? Und das kühle Tuch, es ist
längst erhitzt von meinem Fieber. Die großen Wunden, denen musst du dich annehmen. Die
tiefen, klaffenden Wunden, die du in meinen Leib gegraben hast. Sie sind es, die brennen und
eitern und die mein Fieber steigen lassen. Bekämpft nicht das Fieber, es ist nur Symptom.
Sorg dich um meine Wunden, versorge meine Wunden. Die tiefen Wunden, die sich immer
weiter hineinfressen in meinen Körper und ihn von innen ergreifen. Du willst mich doch
pflegen. Du willst mich doch heilen. Was tust du, Anthropos? Du tust nicht genug. Deine
Versuche sind zu zaghaft. Halbherzig nimmst du dich meiner Wunden an. Es genügt nicht. Es
genügt nicht, um mein Brennen zu mildern. Das Fieber, es nimmt weiter zu. Was tust du
Anthropos? So hilf mir doch!

Gönn mir Ruhe, Anthropos! Ruhe vor deinen Übergriffen.

NEIN! Anthropos, du kannst nicht weiter nach mir Verlagen. Du kannst nicht weiter
nach meinem Körper greifen und ihn dir zu eigen machen. Du kannst nicht weiter Wunden
schlagen. Du wolltest mich doch pflegen. Pflegen und nicht weiter ausbeuten. Was nützt es,
wenn du eine Wunde versorgt und mir zugleich immer neue, immer tiefere Wunden zufügst.
Versuch nicht meine Schreie zu ersticken. So hör mich doch. Hör mich doch an. Ich will dir
ja geben. Ich will mich dir ja hingeben. Ich gebe was ich kann, aber je mehr du dir nimmst,
desto weniger kann ich dir geben.

Du hast doch genug. Ich gebe dir doch genug. Es ist doch genug für dich. Du musst nur
von deiner blinden Gier ablassen. Deine Gier, die dich blind macht für meine Schmerzen und
meine Wunden. Deine Gier, die dich taub macht für meine Schreie. Es muss dir doch auch
einmal genügen, was ich bereit bin dir zu geben. Es muss dir doch genügen, was ich dir geben
kann. Mehr kann ich dir nicht geben. Brauchst du denn wirklich so viel von mir. Musst du dir
denn wirklich alles nehmen? Ist deine Gier denn nie befriedigt? Bist du denn nie befriedigt,
Anthropos?

Deine Übergriffe, sie werden mich zerstören. Nein, sie werden dich zerstören. Deine
Gier wird dich zerstören. Deine ewige Gier. Du brauchst mich! Du kannst nicht ohne mich
Leben. Ich gebe dir dein Lebensgrundlage. Ich schenke dir dein Leben. Selbst jetzt noch,
erkrankt, am Boden liegend.

Du bist nicht Ouroboros. Du kannst dich nicht selbst nähren. Du bist nicht autark. Und
doch bist du Ouroboros, du kreist um dich selbst. Für dich existiert nichts, als du selbst. Du
und deine unstillbare Gier. Aber deine Gier, sie verschlingt auch mich, sie verschlingt deine
Lebensgrundlage. Sie verschlingt dein Leben. Denn ich bin dein Leben. Und Ouroboros, die
Schlange der Ewigkeit, verschlingt sich so in ihrer Gier selbst.

Du darfst nicht weiter nach mir gieren. Du darfst nicht weiter nach mehr gieren. Siehst
du denn nicht, dass deine Gier dein Ende ist. Bald kann ich dir nichts mehr geben. Bald hast
du dir alles genommen. Bald hast du dir deine Lebensgrundlage genommen. Bald hast du dir
dein Leben genommen. Bald hast du dich selbst verschlungen.

Mein Körper ist krank. Ich bin krank. Krank durch deine Übergriffe. Ich liege, mich vor
schmerzen krümmend, am Boden. Ich fiebere, ich brenne. Wenn du nicht aufhörst mich zu
verwunden, wenn du nicht anfängst meine Wunden zu versorgen, mich zu pflegen, dann
kann ich nicht mehr für dich sorgen. Dann bist du verloren. Unsere Beziehung steht an einem
Wendepunkt. Meine Erkrankung steht an einem Wendepunkt. Jede brennende Wunde frisst
sich tiefer in mich rein. Immer mehr entzündet sich mein Körper.

Nur ein bisschen mehr, höre ich dich sagen, gib mir nur ein kleines bisschen, dann höre
ich auf, dann ist es mir genug. Du bist süchtig nach mehr, Anthropos. Ich aber kann nicht
mehr. Ich kann dir nicht mehr geben. Und während du weiter wütest und nach meinem
Körper gierst, bemerkst du nicht, wie die Entzündungen auf meinen ganzen Körper
übergreifen. Und du, Anthropos, du schaust zu. Ich sehe Faszination und Entsetzten in
deinem Blick. Und dennoch gierst du weiter nach meinem Körper. Du ahnst, dass wir uns
dem Punkt nähern, an dem sich alles ändert. Du wolltest dich nicht ändern. Du willst dich
nicht ändern. Vielleicht kannst du dich nicht ändern. Ich habe mich geändert. Du hast mich
verändert.

Wir nähern uns dem Punkt, an dem unsere Beziehung endgültig zerstört ist. Der Punkt
an dem es nicht mehr reicht, wenn du dich änderst, Anthropos. Der Punkt, an dem ich dir
nicht mehr verzeihen kann, selbst wenn ich wollte. Der Punkt, an dem du nicht mehr
eingreifen kannst. Der Punkt, an dem du mir und dir nicht mehr helfen kannst. Es ist der
Wendepunkt.

In der Krisis gibt es nur zwei Möglichkeiten, Heilung oder Tod. Aber der Tod wird
nicht meiner sein. Ich werde genesen, im Laufe der Zeit. Aber zuvor wirst du zugrund gehen,
an meinem Fieber.

Sie wird zu ende gehen, deine Zeit. Sie wird enden, deine Hybris, mit der du dich über
mich ermächtigt hast. Sie wird enden, unbefriedigt, deine Gier, mit der du mich ausgebeutet
hast. Die Zeit des Anthropos wird enden.

Und bis dahin werde ich es aushalten. Ich habe schon so vieles Ausgehalten. Ich bin
stark. Ich bin so viel stärker als du. Ich werde zusehen, wie du dich selbst verschlingt.
Zusehen, wie mein Fieber dich verschlingt. Wie mein Fieber dich und deine Gier
niederbrennt. Ich werde trauern und ich werde heilen.

Aber immer noch reißt du Wunden, brennende Wunden. Wunden von den du glaubt,
dass sie notwendig sind um mein Fieber zu senken. Wunden, von den du glaubt, dass sie
notwendig sind, um dein Überleben zu sichern. Brennende Wunden, die dich am Ende
verschlingen werden.

Wenn ich selbst so voller Wunden bin, so verwundet bin, wie soll ich dir denn Leben
schenken? Wie soll ich denn für dich sorgen? Das begreifst du jetzt auch. Da ist es wieder,
dass Entsetzen in deinem Blick. Jetzt, wo es fast zu spät ist. Jetzt kommt dir die Einsicht, dass
deine Übergriffe mich so zerschunden haben. Aber die Einsicht schafft es doch kaum deine
Gier in Schach zu halten. Weiterhin gierst du nach mir. Weiterhin gierst du nach mehr.
Warum soll ich für dich sorgen, wenn du nicht auch für mich sorgst. Warum sorgen wir
nicht für einander? Ist dies denn keine Partnerschaft? Die war es mal. Aber schon lange hast
du dich von mir entfernt. Deine Gier hat dich von mir entfernt. Deine Gier steht zwischen
uns. Deine Gier hat unsere Liebe längst verschlungen. Die Liebe, sie war eines der ersten
Opfer deiner Gier. Und ich, blind vor Liebe, habe deine Gier nicht gesehen. Ich habe die
Macht, die deine Gier über dich hat, nicht gesehen. Ich habe die Kraft deiner Gier, mit der
sie uns zerstören, nicht gesehen. Ich habe deine Schwäche nicht erkannt. Deine Schwäche,
der Kraft der Gier nichts entgegensetzten zu können. Deine Schwäche, dich der Macht der
Gier hinzugeben. Deine Schwäche, die du dir niemals eingestehen wirst, Anthropos. Denn
nicht nur von der Gier hast du dich verführen lassen, auch dem Charme der Hybris bist du
verfallen. Immer weiter entfernt hast du dich von mir. Du hast mich verstoßen. Doch du
kannst mich nicht verstoßen.

Wir steuern dem Ende entgegen. Du siehst mich schon längst nicht mehr als dir
ebenbürtig. Schon längst siehst du in mir nur noch ein Objekt. Ein Objekt, dessen du dich
ermächtigen kannst. Ein Objekt, dass deine Gier befriedigen soll. Ein Objekt, das ganz dir
gehört. Ein Objekt, das dir Untertan ist. Ich bin dir ergeben, aus Liebe. Auch jetzt noch.
Auch jetzt noch sorge ich mich. Ich sorge mich um dich. Wie willst du überleben, Anthropos,
wenn zuerst deine Gier und zuletzt mein Fieber dich verschlingen?

Warum tust du mir das an, Anthropos?
Du liebst mich doch.
Du hast nur mich.
Ich bin die Eine.

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